Heute beschäftige ich mich mit der „vierten Wand“. Das ist eine sehr wichtige Sache, denn in der Regel laufen Zaubervorführungen ja unter Einbeziehung des Publikums ab. Wir müssen uns Gegenstände ausleihen, kennzeichnen oder identifizieren lassen, wir brauchen Begriffe, Auswahlen und vieles mehr von den Zuschauern.
Mein Stück soll anders werden, anspruchsvoller. Deswegen muss ich mich mit dem Konzept der vierten Wand und wie man sie durchbricht (falls ich das will) intensiver auseinander setzen, und zwar von Anfang an. Ich habe mir hier mal eine der vielen Definitionen aus dem Netz gefischt:
DIE VIERTE WAND
„Das Konzept der „vierten Wand“ wurde im naturalistischen Theater, u.a. von Henrik Ibsen und Denis Diderot, etabliert. Damit sich der Zuschauer wie ein unsichtbarer Beobachter der Realität fühlt, sollen sich demnach Schauspieler, Zuschauer und Autoren eine unsichtbare Wand zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum vorstellen, die nur in eine Richtung transparent ist. Das Bühnenarrangement öffnet sich zum Zuschauer hin, sodass dieser tief in den Raum blickt und optisch in ihn hineingezogen wird. Für ein möglichst natürliches Spiel sollen die Schauspieler ihre Rollen zutiefst verinnerlichen, die Zuschauer ignorieren und die „vierte Wand“ wie eine reale Wand behandeln. Ziel dieser Ilusion war es, den Zuschauer in einen traumhaften, passiven, mitfühlenden Zustand zu versetzen und ihm so eine vollständige Identifikation mit dem bürgerlichen Helden zu ermöglichen – in anderen Worten: Die Unterhaltung des Publikums stand an erster Stelle.
Bertolt Brecht hingegen wollte sein Publikum aktivieren und zum Nachdenken bringen. Dazu entwarf er sein Konzept vom epischen Theater. Anstelle einer emotionalen Identifikation soll der Zuschauer nach Brecht eine rationale, kritische Distanz zum Geschehen entwickeln. Dazu muss er aus seinem passiven Zustand erwachen, indem die vierte Wand aufgelöst, gängige Konventionen gebrochen und die Identifikation gestört wird, zum Beispiel durch das bewusste Aufzeigen von Bühnentechnik oder das direkte Sprechen zum Publikum. Schauspieler können und sollen also ganz offensichtlich neben ihrer Figur auf der Bühne stehen und ihre Handlungen kritisch kommentieren. Es muss klar sein, dass die Handlung zu jeder Zeit anfechtbar ist und anders verlaufen könnte.
Die vollständige Identifikation mit den Charakteren wird damit auch für die Zuschauer gestört. Daraus ergibt sich im Idealfall ein Lerneffekt. Der Zuschauer soll das Gesehene nicht passiv hinnehmen, sondern aktiv reflektieren. Er darf dabei auch unterhalten werden, muss aber einen Bezug zwischen dem Gesehenen und der Realität herstellen können. Erst, wenn die selbstverständlichen Dinge verfremdet werden, beginnt derjenige, der sie betrachtet, über sie nachzudenken. Die Auffassung vom Theater wurde damit grundlegend verändert: Es öffnet nicht nur den Blick in eine andere, fiktive Welt, sondern kann dem Zuschauer auch die Augen für die reale Welt öffnen. Brecht bezeichnete dies als den Verfremdungseffekt.“
Aha! Alles klar. Brechts „Episches Theater“ interessiert mich, da sehe ich viele spannende Möglichkeiten für Zauberei-Vorführungen. Hier ein knappes PDF dazu (nur die beiden ersten Seiten), in dem die wichtigsten Merkmale aufgelistet sind: Brechts episches Theater.
Zuschauer auf der Bühne oder nicht?
Die alte Frage an der sich die Geister scheiden. Viele schwören darauf, weil es ja den „Unterhaltungswert“ bringt. Das, was ich die letzten Jahrzehnte gesehen habe, war größtenteils „Mitmachtheater“. Der „Unterhaltungswert“ der „Stücke“ wurde aus den „komischen“ Situationen mit Zuschauerhelfern auf der Bühne „gemolken“. Eine schreckliche und ätzende Vorstellung. Gags und Lacher auf Kosten der Zuschauer, die sich freundlicherweise bereit erklärt hatten, dem Vorführenden „zu helfen“. Niemals!
[Anmerkung: „Zuschauerhelfer“, oder auch „Assistenten aus dem Publikum“, die wir Zauberer ja immer wieder brauchen: Alleine das Wort Zuschauerhelfer verbietet es, einen Zuschauer als „Helfer“ auf die Bühne zu holen! Was für eine kranke Denke. Wir sind doch die Zauberer, Magiere oder was auch immer. Somit anerkannt die stärksten Figuren im Theater. Die brauchen keine „Helfer“, um ihre Wunder zustande zu bringen.]
Zuschauer gehören nicht auf die Bühne
Ich pfeife darauf, für mich kommt kein einziger Zuschauer auf die Bühne. Mein Leitsatz ist: „Zuschauer haben auf der Bühne nichts zu suchen.“ Punkt. Sie sind nicht entsprechend gekleidet (für meine Inszenierung), sie sind nicht darauf vorbereitet, auf der Bühne in unbekannte Situationen geworfen zu werden und darauf zu reagieren (dann wäre es ja ein Art Impro-Theater), sie wissen nicht, wie man sich auf der Bühne zu verhalten hat (meistens) und das Wichtigste: Sie haben Eintrittsgeld bezahlt, und mit der Theaterkarte haben sie sich das Recht gekauft, im Zuschauerraum in Ruhe gelassen zu werden und die Vorstellung unbehelligt geniessen zu können. Dieses Recht der Zuschauer habe ich zu respektieren. Das ist mein festes Credo.
Der Vorteil ist, dass ich mir viele unvorhergesehene Dinge und Überraschungen erspare, die natürlich passieren können, wenn man sich Leute auf die Bühne holt. Und was die „Gags“ angeht und die „Lacher“: Meistens werden von inkompetenten Zauberern doch die Zuschauer sowieso nur für ein paar billige Gags missbraucht. Ich kann die Leute auch so zum Lachen bringen, durch intelligente Gags, Situationskomik und Selbstironie, usw. Idealerweise lasse ich die Zuschauer über mich lachen und nicht über einen aus ihrer Mitte. Viele Menschen denken heute, wenn ein Zauberer angekündigt wird „Hoffentlich holt der mich nicht auf die Bühne“. Und da haben sie Recht! Das soll bei mir nicht sein. Das soll ja ein Theaterstück werden und kein billiges Schmierentheater.
Zuschauer bleiben im Publikum, und in dem Fall gibt es ja glücklicherweise die vierte Wand, die verhindert, dass ein Zuschauer überhaupt auf die Bühne kommen kann. Die vierte Wand als Sicherheitsmechanismus, wie eine Fischreuse: Ich kann hinaus und durch sie hindurch, die Zuschauer aber nicht hinein. One Way Street.
Interaktion gleich Null dann?
Und wie mache ich es, wenn ich mir etwas ausleihen muss? Wenn ein Zuschauer bei einem Effekt den Gegenstand identifizieren muss? Ganz einfach, zwei Möglichkeiten: Ich gehe ins Publikum und erledige meine Sache da, oder ich hole einen Zuschauer an den Rand der Bühne. Dort kann er für die paar Momente stehen, ich kann mich ihm zuwenden und mit ihm interagieren, auch so, dass die anderen das mitverfolgen können. Aber er hat immer, wenn ich ihn schon der Sicherheit seines Platzes im Zuschauerraum beraube, das Publikum (die „Meute“) hinter sich und nicht gegen sich, was der Fall wäre, wenn er die Bühne betreten müsste. Er wird also in keinster Weise bloßgestellt und bleibt im sicheren Bereich und da, wo ein Zuschauer hingehört: in den Zuschaueraum.
Das ist das Mindeste, was man von mir verlangen kann. Ich bin der Hauptvorführende, ich muss mich der Meute stellen, nicht ein freiwilliger Helfer. Andere Dinge, wie z. B. irgendwelche Kisten, kann ich auch im Publikum platzieren. Ich kann Requisiten auf irgendeine Weise im Publikum verstecken, und diese gehen dann unerwartet wie Überraschungsknaller inmitten des Publikums hoch. Ich habe also unerwartete Überraschungsmomente als dramaturgisches Mittel bei der Inszenierung zur Verfügung. Das klingt spannend!
Das Konzept
Jetzt wird mir das Konzept klar. Ich werde ein Theaterstück im epischen Stil inszenieren. Eine Guckkastenbühne, bei der ich die vierte Wand durchdringe. Ich werde die Zuschauer nicht nur zusehen lassen, sondern sie neben dem Staunen intelektuell und emotional involvieren und provozieren. Ich werde Brechts Konzept des epischen Theaters verfolgen, denn dadurch wird es nicht langweilig und ich bin in der Lage, die Effekte direkt bei den Zuschauern passieren zu lassen. Am Ende des Abends werde ich mit Hilfe der Zauberkunst den Zuschauer nicht nur einen unterhaltsamen Abend bereitet haben, sondern sie auch noch nachdenklich gemacht haben. Sie sollen sich an diesen Abend erinnern. Und vielleicht die eine oder andere Botschaft im Kopf und im Herzen mit nach Hause nehmen, anstelle nur mich bestaunt und sich über meine „Wunder“ den Kopf zerbrochen zu haben.
Das will ich mit meinem Stück erreichen!
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